Sobolew-Raum

Ein Sobolew-Raum ist ein Funktionenraum von schwach differenzierbaren Funktionen, der zugleich ein Banachraum ist. Das Konzept wurde durch die systematische Theorie der Variationsrechnung zu Anfang des 20. Jahrhunderts wesentlich vorangetrieben. Diese minimiert Funktionale über Funktionen. Heute bilden Sobolew-Räume die Grundlage der Lösungstheorie partieller Differentialgleichungen.

Sobolew-Räume ganzzahliger Ordnung

Sobolew-Raum (schwache Ableitungen)

Es seien ΩRn\Omega \subset \R^n offen und 1p1\leq p \leq\infty. Der Raum derjenigen reellwertigen Funktionen uLp(Ω)u\in L^p(\Omega), deren gemischte partielle schwachen Ableitungen bis zur Ordnung kk in Lp(Ω)L^p(\Omega) liegen, ist der Sobolew-Raum Wk,p(Ω)W^{k,p}(\Omega). Die Schreibweise Wpk(Ω)W_p^k(\Omega) ist ebenfalls üblich.

Sobolew-Norm

Für Funktionen uWk,p(Ω)u\in W^{k,p}(\Omega) definiert man die Wk,pW^{k,p}-Norm durch
uWk,p(Ω)=(αkαuLp(Ω)p)1/p \|u\|_{W^{k,p}(\Omega)} = \left(\sum\limits_{|\alpha| \le k} \|\partial^\alpha u\|_{L^p(\Omega)}^p\right)^{1/p}
für p<p < \infty bzw.
uWk,(Ω)=maxαkαuL(Ω) \|u\|_{W^{k,\infty}(\Omega)} = \max_{|\alpha|\le k} \|\partial^\alpha u\|_{L^\infty(\Omega)}\,
Dabei ist α\alpha ein Multiindex α=(α1,,αn)\alpha=(\alpha_1,\cdots,\alpha_n) mit αiN0\alpha_i \in \mathbb{N}_0 und αu:=(α1x1α1αnxnαn)u\partial^\alpha u := \left(\dfrac{\partial^{\alpha_1}}{\partial x_1^{\alpha_1}} \cdots \dfrac{\partial^{\alpha_n}}{\partial x_{n}^{\alpha_n}}\right) u. Weiterhin ist α=i=1nαi|\alpha| = \sum\limits_{i=1}^n \alpha_i. Die Norm ist also gerade die Summe der Lp L^p -Normen aller möglicher Kombinationen partieller Ableitungen bis zur kk-ten Ordnung.
Der Sobolew-Raum Wk,p(Ω)W^{k,p}(\Omega) bzw. Wk,(Ω)W^{k,\infty}(\Omega) ist bzgl. der jeweiligen Norm vollständig.

Sobolew-Raum (Topologischer Abschluss)

Betrachten wir nun den Raum der C(Ω)C^\infty(\Omega)-Funktionen, deren partielle Ableitungen bis zum Grad kk in Lp(Ω)L^p(\Omega) liegen, und bezeichnen diesen Funktionenraum mit Ck,p(Ω)C^{k,p}(\Omega). Da verschiedene Ck,pC^{k,p}-Funktionen nie zueinander LpL^p-äquivalent (siehe auch LpL^{p}-Raum) sind, kann man Ck,p(Ω)C^{k,p}(\Omega) in Lp(Ω)L^p(\Omega) einbetten, und es gilt folgende Inklusion
Ck,p(Ω)Wk,p(Ω)Lp(Ω)C^{k,p}(\Omega)\subset W^{k,p}(\Omega)\subset L^p(\Omega)\,
Der Raum Ck,p(Ω)C^{k,p}(\Omega) ist bzgl. der Wk,pW^{k,p}-Norm nicht vollständig. Vielmehr ist dessen Vervollständigung gerade Wk,p(Ω)W^{k,p}(\Omega). Die partiellen Ableitungen bis zur Ordnung kk können als stetige Operatoren auf diesen Sobolew-Raum eindeutig stetig fortgesetzt werden. Diese Fortsetzungen sind gerade die schwachen Ableitungen.
Somit erhält man eine alternative Definition von Sobolevräumen. Nach dem Satz von Meyers-Serrin ist sie äquivalent zur obigen Definition.

Eigenschaften

Banachraum / Hilbertraum

Wie bereits erwähnt, ist Wk,p(Ω)W^{k,p}(\Omega) mit der Norm Wk,p(Ω)\|{\cdot}\|_{W^{k,p}(\Omega)} ein Banachraum. Für 1<p<1 < p < \infty ist er sogar reflexiv.
Für p=2p=2 wird die Norm durch das Skalarprodukt
(u,v)Wk,2(Ω):=αk(αu,αv)L2(Ω) (u,v)_{W^{k,2}(\Omega)} := \sum\limits_{|\alpha|\le k} (\partial^\alpha u, \partial^\alpha v)_{L^2(\Omega)}
induziert. Wk,2(Ω)W^{k,2}(\Omega) ist daher ein Hilbertraum, und man schreibt auch Hk(Ω):=Wk,2(Ω)H^k(\Omega) := W^{k,2}(\Omega).

Einbettungssätze und Sobolewzahl

Mit den obigen Bezeichnungen bildet man die Sobolewzahl
γ=knp\gamma = k - \dfrac{n}{p}.
Mithilfe dieser Zahl lassen sich die Beziehungen zwischen Sobolewräumen einfach darstellen. Sei Ω\Omega beschränkt in Rn\mathbb R^n und ΩΩ\Omega' \subset\Omega eine Teilmenge oder eine glatte Untermannigfaltigkeit der Dimension nn'. Dann gilt der sobolewsche Einbettungssatz
γγkkWk,p(Ω)Wk,p(Ω) \gamma\ge\gamma' \land k\ge k' \quad\Rightarrow\quad W^{k,p}(\Omega) \subset W^{k',p'}(\Omega')\,
Die Teilmengenbeziehung ist als stetige Einbettung zu verstehen. Falls ΩΩ\Omega'\neq\Omega, handelt es sich dabei um den Spuroperator, der eine Verallgemeinerung der Restriktionsabbildung ffΩf \mapsto f|_{\Omega'} darstellt. Diese kann nicht direkt auf Sobolew-Räume angewendet werden, da wir Funktionen, die fast überall gleich sind, miteinander identifiziert hatten. Der Spuroperator ist als stetige Fortsetzung des Restriktionsoperators für die stetigen Funktionen zu verstehen. Die Einbettung ist kompakt, falls γ>γ\gamma > \gamma' und k>kk > k'.

Randwertprobleme

Die schwache Ableitung beziehungsweise die Sobolew-Räume wurden zum Lösen partieller Differentialgleichungen entwickelt. Jedoch gibt es beim Lösen von Randwertproblemen noch eine Schwierigkeit. Die schwach differenzierbaren Funktionen sind ebenso wie die LpL^p-Funktionen auf Nullmengen nicht definiert. Der Ausdruck fΩ=gf|_{\partial \Omega} = g für fWq,p(Ω)f \in W^{q,p}(\Omega) und gC(Ω)g \in C(\partial \Omega) gibt also erst mal keinen Sinn. Für dieses Problem wurde die Restriktionsabbildung ffΩf \mapsto f|_{\partial \Omega} zum Spuroperator verallgemeinert.

Spuroperator

Sei ΩRn\Omega \subset \R^n ein beschränktes Gebiet mit C1C^1-Rand. Dann existiert ein beschränkter, linearer Operator
T:W1,p(Ω)Lp(Ω), T : W^{1,p}(\Omega) \to L^p(\partial \Omega),
so dass
Tu=uΩ Tu = u|_{\partial \Omega} falls uW1,p(Ω)C(Ω)u \in W^{1,p}(\Omega) \cap C(\overline{\Omega})
und
TuLp(Ω)CuW1,p(Ω)\|Tu\|_{L^p(\partial \Omega)} \leq C \|u\|_{W^{1,p}(\Omega)}
für alle uW1,p(Ω)u \in W^{1,p}(\Omega) gilt. Die Konstante CC hängt nur von pp und Ω\Omega ab. Der Operator TT heißt Spuroperator.

Sobolew-Raum mit Nullrandbedingungen

Mit W0k,p(Ω)W^{k,p}_0(\Omega) wird der Abschluss von Cc(Ω)C^\infty_c(\Omega) in Wk,p(Ω)W^{k,p}(\Omega) bezeichnet. Das bedeutet uW0k,p(Ω)u \in W^{k,p}_0(\Omega) gilt genau dann, wenn es eine Folge (um)mNCc(Ω)(u_m)_{m \in \N} \subset C^{\infty}_c(\Omega) gibt mit umuu_m \to u in Wk,p(Ω)W^{k,p}(\Omega). Für k=1k = 1 kann man beweisen, dass diese Menge genau die Sobolew-Funktionen mit Nullrandbedingungen sind. Es gilt also uW01,p(Ω)u \in W^{1,p}_0(\Omega) genau dann, wenn uΩ=0u|_{\partial \Omega} = 0 im Sinne von Spuren gilt.

Der Hilbertraum HkH^{k} = Wk,2W^{k,2}

Lemma von Sobolew

Sei ΩRn\Omega \subset \R^n offen und seien m,kN0m ,k \in \N_0 mit m>k+n2\textstyle m > k + \dfrac{n}{2}. Ist ferner fHm(Ω)f \in H^m(\Omega), so existiert eine k-mal stetig differenzierbare Funktion auf Ω\Omega, die mit ff fast überall übereinstimmt. Mit anderen Worten hat jede Äquivalenzklasse fHm(Ω)f \in H^m(\Omega) einen Repräsentanten in Ck(Ω)C^k(\Omega).

Sobolew-Raum reellwertiger Ordnung

Oft werden auch Sobolew-Räume mit reellen Exponenten ss benutzt. Diese sind im Ganzraumfall über die Fourier-Transformierte der beteiligten Funktion definiert. Die Fourier-Transformation wird hier mit F\mathcal F bezeichnet. Für sR,s0s \in \R,s \geq 0 ist eine Funktion fL2(Rn)f \in L^2(\R^n) ein Element von Hs(Rn)H^s(\R^n), falls
(1+ζ2)s2F(f)(ζ)L2(Rn)(1+|\zeta|^2)^{\dfrac{s}{2}}\cdot \mathcal{F}(f)(\zeta)\in L^2(\mathbb R^n)
gilt. Auf Grund der Identität F(αf)=(iζ)αF(f)\mathcal{F}(\partial^\alpha f) = (i\zeta)^\alpha \mathcal{F}(f) sind dies für sNs \in \N dieselben Räume, welche schon im ersten Abschnitt definiert wurden. Mit
(f,g)Hs(Rn):=Rn(1+k2)s(F(f))(k)(F(g))(k)dk (f,g)_{H^s(\R^n)} := \int\limits_{\R^n}(1 + |k|^2)^{s} (\mathcal{F}(f))(k)\cdot (\overline{\mathcal{F}(g))(k)} dk
wird Hs(Rn)H^s(\R^n) zu einem Hilbertraum. Die Norm ist gegeben durch
fHs(Rn):=(1+2)s2F(f)L2(Rn) \|f\|_{H^s(\R^n)} := \|(1 + |\cdot|^2)^{\dfrac{s}{2}} \cdot \mathcal{F}(f)\|_{L^2(\R^n)}.
Für ein glatt berandetes, beschränktes Gebiet ΩRn\Omega \subset\R^n wird der Raum Hs(Ω)L2(Ω)H^{s}(\Omega)\subset L^2(\Omega) definiert als die Menge aller fL2(Ω)f \in L^2(\Omega), die sich zu einer (auf Rn\R^n definierten) Funktion in Hs(Rn) H^s(\R^n) fortsetzen lassen.
Für s<0s<0 kann man ebenfalls Sobolew-Räume definieren. Dazu muss jedoch auf die Theorie der Distributionen zurückgegriffen werden. Sei S(Rn)\mathcal{S}'(\R^n) der Raum der temperierten Distributionen, dann ist Hs(Rn)H^s(\R^n) für alle sRs \in \R durch
(1+ζ2)s2F(f)(ζ)L2(Rn)(1+|\zeta|^2)^{\dfrac{s}{2}}\cdot \mathcal{F}(f)(\zeta)\in L^2(\mathbb R^n)
definiert.

Dual- und Hilbertraum

Betrachtet man den Banachraum HsH^s mit dem L2L^2-Skalarprodukt (u,v):=u(x)v(x)dx\textstyle (u,v) := \int\limits u(x)\overline{v(x)} \mathrm{d} x so ist HsH^{-s} sein Dualraum. Jedoch kann man den Raum HsH^s mit Hilfe des Skalarproduktes
(u,v)Hs=1(2π)nF(u)(ξ)F(v)(ξ)(1+ξ2)sdξ(u,v)_{H^s}= \dfrac{1}{(2\pi)^n} \int\limits \mathcal{F}(u)(\xi) \mathcal{F}(v)(\xi) (1 + |\xi|^2)^s \mathrm{d} \xi
als einen Hilbertraum verstehen. Da Hilberträume zu sich selbst dual sind, ist nun HsH^s zu HsH^s und zu HsH^{-s} (bezüglich unterschiedlicher Produkte) dual. Jedoch kann man HsH^s und HsH^{-s} mit Hilfe des Isomorphismuses
vF1((1+ξ2)sF(v)(ξ))(x) v \mapsto \mathcal{F}^{-1}\left((1+|\xi|^2)^s \mathcal{F}(v)(\xi)\right)(x)=F1F((1+D2)sv(ξ))(x) = \mathcal{F}^{-1}\mathcal{F}((1+|D|^2)^s v(\xi))(x)=(1+D2)sv(x) = (1+|D|^2)^s v(x)
identifizieren. Auf diese Weise lassen sich auch die Räume HsH^s und HslH^{s-l} mit dem Isomorphismus
v(1+D2)l2vv \mapsto (1+|D|^2)^{\dfrac{l}{2}} v
identifizieren.

Literatur

  • H.-W. Alt: Lineare Funktionalanalysis, Springer, 5. Auflage, 2006, ISBN 3-540-34186-2
  • R. A. Adams, J. J. F. Fournier: Sobolev Spaces, Academic Press, 2nd edition, 2003, ISBN 0-12-044143-8
  • L. C. Evans: Partial Differential Equations, American Mathematical Society, 1998, ISBN 0-8218-0772-2
  • L. C. Evans, R. F. Gariepy: Measure Theory and Fine Properties of Functions, CRC, 1991, ISBN 0-8493-7157-0
  • V. Mazja: Sobolev Spaces, Springer, 1985, ISBN 3-540-13589-8
  • W. P. Ziemer: Weakly Differentiable Functions, Springer, 1989, ISBN 0-387-97017-7
 
 

Miß alles, was sich messen läßt, und mach alles meßbar, was sich nicht messen läßt.

Galileo Galilei

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